#4 Berlin, 1979

Draußen graue Großstadtstraßen und unfreundliche Menschen, drinnen Musik, oranges Licht und ein leichter Grasgeruch, der die WG wahrscheinlich nie ganz verlässt. Jana steht neben ihrer Freundin Nelli in der Tür. Nelli kennt die Leute, die hier wohnen. Jana ist mitgekommen, weil Nelli nicht alleine trampen wollte und weil sie Berlin sehen möchte. Westberlin zumindest. Ostberlin würde sie noch lieber sehen, aus politischen Gründen, aber das ist schwierig.

Jemand gibt ihr ein Glas billigen Wein, von dem sie morgen Kopfschmerzen haben wird. Als die Musik stoppt, schaut sie zum Plattenspieler. Dort steht ein junger Mann, fast noch ein Junge, höchstens 20 Jahre alt. Er ist groß. Lange blonde Haare rahmen ein Gesicht mit vollen Lippen und großen Augen ein. Die Augen fallen ihr sofort auf. Sie ist fasziniert.

Sie geht hinüber zu ihm.

“Hast du Suzanne von Leonard Cohen da?”, fragt sie ihn.

“Ich muss schauen. Ich bin heute zum ersten Mal hier.”

Er kniet sich neben den unordentlichen Plattenstapel, findet den Song für sie und legt ihn auf.

Jana setzt sich neben ihn auf den Boden und singt leise mit.

“Suzanne takes you down to her place near the river …”

Er beobachtet sie etwas verstohlen von der Seite. 

Als der Song zu Ende ist, sagt er: “Ich bin Carl.”

Er ist auch zu Besuch hier. Eigentlich wohnt er gar nicht so weit weg von ihr, vielleicht zweieinhalb Stunden mit dem neuen Auto, das ihre Eltern gekauft haben.

Sie reden den ganzen Abend und das ganze Wochenende. In der WG, auf den Straßen und in dem griechischen Restaurant, das günstige Gyros Pita verkauft. Nelli ist dabei, aber meistens bemerken sie sie kaum.

Ein paar Wochen später besucht Jana ihn mit dem neuen Auto ihrer Eltern. Ihre erste lange Autofahrt. Sie ist aufgeregt und hält das Lenkrad ganz fest. Und wieder ein paar Wochen später besucht er sie. Seine langen Haare kommen bei ihrer Oma nicht gut an. Aber das ist egal. Sie sind jetzt ein Paar.

Carl hat Abitur gemacht und möchte nicht zur Bundeswehr. Deshalb will er nach Berlin.

“Kommst du mit?”, fragt er sie.

Ihre erste Nacht in Berlin verbringen sie im Treppenhaus eines Mietshauses, weil in der WG niemand zu Hause ist und sie kein Geld für ein Hotel haben. Dann finden sie eine kleine Wohnung im Hinterhaus eines schwulen Friseurpaares in Neukölln. Es gibt fast keine Möbel, die Straßen sind voller Hundekot und den ganzen Tag schallt Heart of Glass von Blondie durch den Hof. Aber das ist egal. Sie haben einander.

Once I had a love and it was divine …

Jana jobbt in einem Hotel als Zimmermädchen, Carl bekommt etwas Geld von seinem Vater. Wenn nach Miete und Essen noch etwas übrig ist, sitzen sie in Cafés, schreiben und diskutieren. Sie hören chilenische Musik und lesen Gedichte von Pablo Neruda.

Aber irgendwann sieht Jana keine Perspektive mehr. Sie fühlt sich allein in Berlin. Das Geld reicht nicht. Die Menschen sind unfreundlich. 

“Wir sind noch zu jung”, sagt sie zu Carl und fährt zurück nach Hause.

25 Jahre später lebt Jana in einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Sie hat zwei Kinder.

An einem Frühlingstag geht sie durch die Straßen und ihr kommt ein Mann entgegen. Groß, volle Lippen, große Augen. Nur die Haare sind kurz.

So könnte Carl jetzt aussehen, denkt sie.

Immer wieder wandern ihre Gedanken in den nächsten Wochen zu ihm. Sicher war er es nicht, dort auf der Straße. Aber was macht er jetzt wohl? Geht es ihm gut? Und hat er ihr verziehen, dass sie damals einfach gegangen ist?

Sie findet ihn im Internet, er lebt in Norddeutschland. Und dort steht auch eine E-Mail-Adresse. Sie schreibt ihm, dass sie ihn gerne treffen würde. Aber er antwortet nicht. Natürlich, denkt sie, er ist immer noch wütend auf mich.

Später erzählt sie ihrer Tochter davon.

“Vielleicht ist deine Mail im Spam gelandet”, sagt die. “Schreib ihm doch einfach noch mal.”

Also schreibt sie ihm ein zweites Mal. Und jetzt antwortet er sofort.

Sie treffen sich in der Mitte Deutschlands bei einem Freund. Carl umarmt sie und sie weiß sofort: Er hat mir verziehen.

Als sie ein paar Stunden später am Fluss entlang gehen, fragt sie ihn, ob er schon einmal in der Stadt war, in der sie lebt.

“Ja, tatsächlich”, sagt er. “Vor ein paar Wochen bin ich umgestiegen, hatte den Anschluss verpasst und habe mir die Stadt angeschaut. Warum?”

Jana und Carl leben seit zwanzig Jahren wieder zusammen in der kleinen Stadt in Süddeutschland. Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder, die Jana in die Ehe gebracht hat.

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#3 Work-Love-Balance